Ein inhaltliches Fazit der diesjährigen Herbsttagung kann man mit zwei Sätzen wiedergeben: Die Gewalt wird bleiben. Die Frage wird sein, wie wir ihr persönlich und gesellschaftlich begegnen und welchen Ort und wie viel Raum wir ihr im Leben zuweisen.
Ein atmosphärisches Fazit gleich vorweg: Die Tagung war geprägt von einem außerordentlich respektvollen und einander zugewandten Umgang aller Beteiligten. Die Organisatorinnen und Organisatoren waren am Ende der Tagung berührt von dem Dank und der Anerkennung, die ihnen entgegen gebracht wurden.
Und eine kleine Panne - im Nachhinein betrachtet - sei ebenfalls gleich hier vermeldet. In der ursprünglichen Planung hatte die zweite Hälfte des Titels der Tagung „Leitmotiv der Menschheitsgeschichte“ geheißen. Irgendwie hat die Planerinnen und Planer dann der Mut verlassen. Ein solch weit gespanntes Thema zu formulieren, das erschien ihnen unredlich.
Im Verlauf der Tagung brachten mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer eben diesen umfassenden Aspekt geradezu selbstverständlich in den Diskurs ein. Das ursprünglich geplante und dann verworfene Thema wurde unversehens zum tatsächlich verhandelten.
So war das siebte Jahr der Herbsttagungen von AWC Deutschland e.V. ganz entgegen einer gängigen Redewendung kein verflixtes. Ingrid Schittich, die 1. Vorsitzende, eröffnete am Freitagabend die Tagung zum Thema:
Der Glaube an die Gewalt - Leitmotiv menschlichen Verhaltens? vor dem vollbesetzten großen Saal des ev. Gemeindehauses. Sie stellte in ihrer Begründung der Tagung besonders den Aspekte heraus, dass Gewalt allgegenwärtig ist, alle Lebensbereiche durchdringt. Sie stellte die Frage, warum Menschen immer wieder bereit waren und sind, Gewalt soweit zu verinnerlichen und zu akzeptieren, dass sie in einem weitesten Schritt - im Krieg - die Verfügung über ihr Leben anderen übergeben.
Als Sozialwissenschaftler setzte Prof. Dr. Rainer Fretschner von der FH Kiel den Schwerpunkt auf gesellschaftliche und politische Phänomene und Erkenntnisse, die mit Gewalt im Zusammenhang stehen.
Prof. Dr. Rainer Fretschner/Bild: awc_ksSein wissenschaftlich präzise fundiertes Referat mit dem doppelsinnigen Titel: „Mensch. Macht. Gewalt“ bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern u.a. einen spannenden Gang durch die Gedanken zur Gewalt in den Sozialwissenschaften. Ausgehend von Thomas Hobbes führte der Weg über Norbert Elias, Michel Foucault, Theodor W. Adorno zu Zygmunt Baumann. Dessen Satz: „Im Prozess der Zivilisation geht es nicht darum, die Gewalt auszumerzen, sondern sie neu zu verteilen“ konnte man auch als Rainer Fretschners Kernthese betrachten.
Einen pädagogisch radikalen Ansatz stellte Jochen Bicheler von der Pädagogischen Hochschule Weingarten in seinem Referat: „Weltbürgerin und Weltbürger als Leitbild für die politische Bildung“ vor. Er zeigte, dass die Globalisierung als Herausforderung gesehen werden muss, die nationalstaatlich orientierten Inhalte der bisherigen politischen Bildung zu überprüfen. Gleichzeitig betonte Jochen Bicheler, dass der Glaube an Gewalt und Kriege zur Lösung internationaler Konflikte eine hartnäckige Konstituente sei.
Jochen Bicheler |
Bild: awc_ks |
Die politische Bildung in der Schule, und nicht nur dort, werde sich der „Förderung einer weltbürgerlichen Urteils- und Handlungskompetenz sowie eines globalen Bürgerbewusstseins“ widmen müssen. Vor allem auch, so Bicheler, „um Resignation und einer rein ökonomisch ausgerichteten Vernunft zu begegnen“.
Trotz ihrer termingeplagten Examenszeit war Annette Guba, Kandidatin der Psychologie, aus Innsbruck angereist, um über „Gewalt, Trauma, Versöhnung“ zu sprechen.
Annette Guba/Bild: awc_ks Ihr Referat spiegelte die Erfahrungen und Einsichten aus einem viermonatigen Forschungsaufenthalt in Liberia in Westafrika. Sie umriss die bedrückenden sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die in Liberia, einem der ärmsten Länder der Welt, noch zehn Jahre nach Ende des 14 Jahre dauernden Bürgerkriegs herrschen. Annette Guba berichtete über ihre schwierige und gelegentlich risikoreiche wissenschaftliche Arbeit, bei der sie die Versöhnungsprozesse junger Liberianer im Kontext politischer Transformation untersuchte. Sie verband ihren Bericht in eindrucksvoller Weise mit den theoretischen Grundlagen der Versöhnungstheorie und Versöhnungsforschung. Der Vortrag vermittelte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung eine Vorstellung von der Komplexität der Folgen von schrecklichster Gewalt in diesem kleinen afrikanischen Land. Annette Guba konnte auch ahnen lassen, dass Versöhnung das einzige Mittel ist, das Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen und zu sichern.
Zu einem Kompendium der Psychologie der Gewalt gestaltete sich das Referat des Psychotherapeuten Dr. Roland Heinzel aus Steißlingen. Unter dem Titel: „Gewalt, Trauma und Frieden - um uns und in uns“ entwickelte Dr. Heinzel eine umfassende Darstellung der Gewalt im Menschen und zwischen den Menschen aus tiefenpsychologischer Sicht.
Es gelang ihm, das anspruchsvolle und schwierige Thema auf persönliche und sehr einnehmende Weise zu behandeln. Er verband dabei die umfassenden wissenschaftlichen Ausführungen, u.a. zur neurobiologischen wie auch zur tiefenpsychologischen Forschung, immer wieder mit Episoden aus seinem eigenen Leben. So durften die Zuhörerinnen und Zuhörer gleich zu Beginn seines Vortrags einem von ihm gesungenen, getexteten und komponierten Friedenslied aus den frühen achtziger Jahren lauschen.
Dr. Roland Heinzel Bild: awc_ks Dr. Heinzel lag daran zu zeigen, dass Gewalt zwischen Menschen ihre Ursache fast immer in einer Asymmetrie hat. Mit Blick auf die Gesellschaft führte er aus: „Nicht-legitime Asymmetrien bzw. „Machtgefälle“ sind heutzutage langfristig mit „Frieden“, emotionaler Nähe und seelischer Gesundheit nicht vereinbar. Frieden ist nur mit Gerechtigkeit möglich.“ In einem 10-Punkte-Programm fasste Dr. Heinzel seine Vorschläge zusammen, wie der Gewalt begegnet werden könne.
Einer noch jungen Tradition bei den Tagungen von AWC folgte das abschließende Podiumsgespräch. Wieder sollten sich Theorie und Wirklichkeit treffen, dieses Mal unter dem Aspekt:
„Strukturen von Gewalt - hautnah.“ Ausgehend von einem biographisch skizzierten Selbstporträt nahm Wolfram Lang von Greenpeace Bodensee die Zuhörerinnen und Zuhörer zu einer für ihn prägenden Erinnerung mit.
Wolfram Lang Bild: awc_ksBei einem strikt gewaltfreien Einsatz in Brüssel wurde eine international zusammengesetzte Gruppe von Greenpeace-Aktivisten vorübergehend festgenommen. Beklemmend deutlich vermittelte Wolfram Lang seine Empfindungen, Gedanken und Ängste bei diesem Ereignis.
Doris Künzel, Sozialarbeiterin und Fachfrau für die Probleme der Flüchtlinge in Konstanz, brachte ihre lange Erfahrung auf diesem Gebiet mit Leidenschaft und Empathie in das Gespräch ein.
Doris Künzel Bild: awc_ksSie zeigte, wie prekär die Lebenssituation der Flüchtlinge immer noch und immer wieder ist - auch in Überlingen, wo sie die Verhältnisse vor kurzem wieder gesehen hat. Die strukturelle Gewalt, die den Flüchtlingen entgegen schlägt, sei ein Indikator für die Menschenrechtslage in unserem eigenen Land.
Jürgen Dornis, selbst Lehrer mit Erfahrung in verschieden pädagogischen Ebenen im Inland wie auch im Ausland, ging dann weiter zu einem für alle nahe liegenden Bereich, der Schule.
Jürgen Dornis Bild: awc_ksSein leichtfüßig daherkommender Humor konnte nicht davon ablenken, dass Jürgen Dornis eine zutiefst niederschmetternde Diagnose formulierte: Die Schule ist in unserem Land trotz vermeintlicher Reformen und wohlklingender Beschreibungen ein Gewaltsystem geblieben.
Ingrid Schittich kam zum Abschluss der Tagung zur Hoffnung vom Vorabend zurück:
„Sicher werden wir auf dieser Tagung nicht die letzten Antworten auf unsere Fragen bekommen, aber doch zumindest Erklärungen und den einen oder anderen Ausblick auf andere Leitmotive des Menschseins.“
Die Tagung wurde von einer Spendenaktion begleitet. AWC Deutschland e.V. unterstützt seit sieben Jahren eine Schule in einem Elendsviertel in Monrovia, der Hauptstadt Liberias. Aktuell müssen Stühle für die Schülerinnen und Schüler angeschafft bzw. ersetzt werden. Dass dabei während der Tagung knapp 600 Euro zusammenkamen, ist ein bemerkenswertes Ergebnis. Es zeigt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung auch die praktische Arbeit der Weltbürgerinnen und Weltbürger bei AWC schätzen und unterstützen. Ihnen gilt dafür unser ganz besonderer Dank.
Zum Weiterlesen:
>
Begrüßung (I.Schittich)
> Powerpoint-
Präsentation Prof.Dr.R.Fretschner
> Powerpoint-
Präsentation J. Bicheler
> Referat Dr.Roland Heinze
l [aus Copyrightgründen gesperrt]
>
Anhang zum Referat von Dr.R.Heinzel
> Powerpoint-
Präsentation A.Guba
> Podiumsbeitrag
Wolfram Lang > Podiumsbeitrag
Doris Künzel> Podiumsbeitrag
Jürgen Dornis> Informationen zur
Referentin und den Referenten>
Plakat zur Spendensammlung während der Tagung